Waterfall in Jiuzhaigou National Park in China

Seenlandschaften in Türkis und das komplizierte Nationalparksystem Chinas

Ich wandere von einem glasklaren See zum Nächsten. Sie schimmern türkis, grün und aquamarin. Ich kann bis zum Grund sehen. Wie versteinert liegen Baumstämme im Wasser und werden zu bizarren Kunstwerken und wunderschönen Skulpturen zugleich. Viele der über 100 Seen sind miteinander verbunden. Zwischen ihnen befinden sich 17 Wasserfälle und mehrere gefährliche Stromschnellen. Auf den mehr als 1000 Höhenmeter, die das Wasser bis zum Tal zurück legt, passiert es immer wieder dunkelgrüne moosbedeckte Ebenen und saftige Graslandschaften. Überall gluckst und plätschert es. Es ist noch früh morgens und die Holzstege sind mit Reif und Eis bedeckt. Einzelnen Ästen sind noch von Reif bedeckt, der in der aufgehenden Sonne glitzert. Im Hintergrund sind schneebedeckte Berge zu sehen. Die Luft ist frisch und angenehm. Der Jiuzhaigou Nationalpark ist ein Juwel unter den chinesischen Parks, die ich bisher besucht habe. Ich bin geneigt, in einen der Seen zu springen und ein kühles, erfrischendes Bad zu nehmen. Ich liebe es, in eiskaltes Wasser einzutauchen. Aber auch hier gibt es unzählige Verbote und Vorschriften.

Meine Erfahrungen mit den chinesischen Nationalparks lassen sich wie folgt zusammenfassen: erstickend. Die Landschaft ist ohne Ausnahme wunderschön, aber die Parks der Klasse AAAAA (kein Schreibfehler!), sind überentwickelt. Besucher laufen auf gepflasterten Wegen oder auf Holzstegen. Über Stock und Stein, wie ich es aus den Alpen kenne, ist nicht vorgesehen. Ebenso gibt es überall Überwachungskameras und Wifi-Hotspots. Schilder weisen mich alle 100 Meter darauf hin, dass ich auf dem Pfad bleiben soll und dass ich keinen Müll wegwerfen soll. Alle 200-500 Meter gibt es ein luxuriöses Toilettenhaus mit Reinigungskraft. Ebenso finden sich überall kleine Snack oder Imbissstände. Verhungern oder verdursten würde ich definitiv nicht. Mit meinen Wanderschuhen und meiner Outdoorbekleidung bin ich definitiv am falschen Ort, selbst wenn ich mich auf 3000m Höhe befinde. Ebenso gibt es in jedem der Parks, die ich besucht habe, ein Busshuttle, der mich zu den Highlights fährt. Einsteigen, Aussteigen, Foto machen, Einsteigen. Das ist der Rhythmus der meisten Besucher. Und wenn ein Bergaufstieg zu anstrengend ist, wie beim Berg Huashan, denn ermöglichen Seilbahnen den Aufstieg ohne je ins Schwitzen zu geraten. Jeder hat so die Chance, ein Gipfelerlebnis zu erleben.

Ich fühle mich in den chinesischen Nationalparks entmündigt. Ich möchte über Stock und Stein laufen. Ich möchte die Chance haben, mich zu Verlaufen, vom Pfad ab zukommen und Dinge zu Entdecken, ohne dass ich weiß, was auf mich zukommt. Ich möchte unter meinen Schuhen Waldboden, Steine oder Wurzeln fühlen. Ich möchte abends meine Füße und Gelenke spüren und sagen können, heute habe ich was geschafft. Aber meine Bergschuhe waren bisher überall überflüssig. Ich hätte genauso gut mit Flip Flops die Landschaft erkunden können.

Huanglong Nationalpark

Der benachbarte Nationalpark Huanglong erinnert mit seinen natürlichen Wasserbecken stark an die Mammoth Hot Springs im Yellowstone Nationalpark. Als Folge von chemischen Prozessen wird Calciumcarbonat ausgeschieden und bildet sogenannte Travertinen. Sie unterscheiden sich von Kalktuffen einerseits durch ihre deutliche Schichtung und andererseits durch ihre Polierfähigkeit. Die Travertinen entstehen durch den chemischen Prozess der Calciumcarbonat-Ausfällung. Wasser mit einem hohen Anteil an Kohlenstoffdioxid (CO2),Hydrogencarbonat-Ionen (HCO3) sowie Calcium-Ionen (Ca2+)und einem niedrigen Anteil mit Carbonat-Ionen (CO32−) verändert an der Luft oder durch Erwärmung seine chemische Zusammensetzung. Kohlenstoffdioxid entweicht. Während die Konzentration an Hydrogencarbonat-Ionen absinkt, steigt der Anteil an Carbonat-Ionen.Ab einer bestimmten Konzentration bildet sich schließlich das Löslichkeitsprodukt Calciumcarbonat, das uns hier in Form wunderschöner Travertinterrassen begegnet.  Üblicherweise strahlen Travertinen leuchtend weiß. Wenn der chemische Prozess allerdings von Limonit begleitet wird, erhalten sie eine gelbliche bis braune Färbung. Bei Hämatit kommt es zu einer rötlichen Einfärbung. Die Wasserbecken erstrahlen dann auch in Abhängigkeit von der Wassertiefe, Sedimenten, der Sonneneinstrahlung und Algen in den unterschiedlichsten Farben von gelb über grün zu blau. Die Besonderheit in Huanglong ist seine Lage im Hochgebirge. Auf rund 3000m ü.NN. hat sich hier eine einzigartige Naturlandschaft mit seltenen Pflanzen gebildet. Angeblich gibt es hier auch vom Aussterben bedrohte Tiere wie der Große Panda, der goldgelbe Stumpfnasenaffe und  der Sichuan Takin, eine spezielle Rinderart.

Um die Landschaft zu schützen und dem Tourismus dennoch leicht zugänglich zu machen, ist der Nationalpark intensiv ausgebaut worden. Besucher können den langen Weg zu den bunten Wasserbecken mit der Seilbahn hochfahren oder auf einem Bohlenweg erklimmen. Bei der Höhenlage kann der Anstieg schon etwas Atemnot bereiten. Ich habe mich für das Laufen entschieden und konnte so die Landschaft meist alleine genießen. Leider war ich etwas früh in der Jahreszeit. Die Wasserbecken weiter unten im Tal waren noch ausgetrocknet. Es war auch lange her, dass ich Vogelgezwitscher hören konnte. Leider war dies nur selten möglich, da ich noch öfter von lauthals schnatternden Reisegruppen umgeben war. Ein Ausflug in die Natur bedeutet bei den Chinesen, sich mit anderen auszutauschen, Fotos machen, diese sofort an Freunde zu verschicken und zum nächsten Highlight zu fahren. Mit Ruhe und Erholung hat das aus meiner Perspektive nichts zu tun und so genoss ich nun die Einsamkeit des Aufstiegs.

Das Chinesische Nationalparksystem

Aber auch wenn ich über die Überentwicklung in so vielen Nationalparks schimpfe, muss ich doch berücksichtigen, dass meine Erwartungen auf meine Erfahrungen in Europa basieren. Das sagt aber nichts darüber aus, welche Erwartungen die Einheimische Bevölkerung an ein Parksystem hat oder gar welche Standards im Land zum Naturschutz hat. Die überentwickelte Infrastruktur, die ich bemängele, wird von der chinesische Bevölkerung vielleicht gewünscht. Kundenservice auf hohem Niveau. Ebenso muss man sich vor Augen führen, welche Auswirkungen es auf die Natur hätte, wenn 20.000 Menschen täglich über den Waldboden eines Nationalparks stampfen würden. Die Natur wäre schnell zerstört. In der Hinsicht, sind Holzpfade und Steinböden der optimalste Weg, die Natur zu schonen und zu erhalten. Und unter diesem Gesichtspunkt, sollte ich dankbar sein, dass ich die Möglichkeit hatte, diese wunderschönen Orte ebenso zu bewundern, wie Millionen Besucher vor und nach mir.

Darüberhinaus kann China nicht auf eine jahrhundertelange Geschichte im Bereich Nationalparks zurückblicken. Laut der Journalistin Jiayun Feng, hat China erst 1925 sein erstes Naturreservat in der Guangzhou Provinz (Dinghu Mountain National Nature Reserve) nach russischem Vorbild eingerichtet. Der erste Nationalpark entstand erst 1982 (Zhangjiajie National Forest Park). Es gab zwar bereits in der Qin Dynasty Parks. Diese waren aber eher private Gärten der Wohlhabenden oder Teil einer Tempelanlage. Die USA hatte bereits 1872 den ersten Nationalpark der Welt (Yellowstone National Park) gegründet. Kurz darauf folgten bereits Australien, Neuseeland und Schweden. Für ihren 2017 veröffentlichten Artikel „Inside China’s Ambitious Plan To Create Its First National Park System“ zur verworrenen Situation des Nationalparksystems in China interviewte Feng den Biowissenchaftler Zhu Ziyun.

[Some areas] are less national parks than tourist attractions,” said Zhu, who has been to most of them for research purposes. “They were built with good intentions, but over the years, local governments exploited them to attract tourists, putting economic interests above environmental protection goals.”[…] By the end of 2010, China had 2,541 nature reserves, 208 national scenic areas, and 660 national forest parks, yet none of them qualified as a national park by international standards. […] From an administrative perspective, a long-standing problem has been the enforcement of rules protecting restricted areas, in part because there are too many regulating bodies. Currently, 13 different government agencies have a stake in overseeing protected areas […]. Another huge challenge is how to thoughtfully define the mission of the national park system and its relationship with existing protected areas. National parks should enhance the “protected area” designation, rather than weaken the status of other sites with that label. “In the Western hemisphere, ‘national park’ is a mature concept that leaves little room for personal or creative interpretations,” Zhu said. “But in China, the concept is still a novelty. Without a strict definition coming from the top, local officials tend to interpret the idea in a way that serves them best.” Zhu gave the example of the word park (公园 gōngyuán), which “inherently means a place for recreation in the Chinese language. So for those who want to use national parks to attract tourists, they might tap into this.” Jiayun Feng, in „Inside China’s Ambitious Plan To Create Its First National Park System“

Mittlerweile gilt die Bezeichnung National-level Scenic and Historic Interest Area als äquivalent für den Begriff Nationalpark. Dennoch bestätigt dies mein Eindruck von den vielen Parks und Scenic Interest Areas, die ich besucht hatte. Zu einem großen Teil liegt der Fokus auf dem Tourismus und nicht auf dem Schutz und Erhalt der Naturlandschaft.